Sexualität stellt die intimste Form der Kommunikation zwischen den Geschlechtspartnern dar. Gleichzeitig unterliegt sie gesellschaftlichen Reglements, was einer der Gründe ist, dass die meisten Sexualstörungen eine psychosomatische Ursache aufweisen. Eine Übersicht zum Spektrum der sexuellen Störungen des Menschen.
Die menschliche Sexualität dient nicht nur der Fortpflanzung – nur bei vier Prozent der Paare ist dies der Fall –, sondern sie spielt vor allem als intimste Form der Kommunikation innerhalb von Paarbeziehungen eine große Rolle. Diese kommunikative bzw. soziale Dimension unterliegt gesellschaftlichen Reglements. Die Frage ist dabei: Wer darf mit wem wann wie Sex haben? Dies mag auch einer der Gründe sein, warum weit über 90 Prozent der sexuellen Störungen beim Menschen psychosomatisch bedingt sind.
Die hier subsumierten Problematiken umfassen Störungen der sexuellen Appetenz („zu viel“, „zu wenig Sex“) wie auch die klassischen, meist psychosomatisch bedingten Sexualstörungen der Frau (Dyspareunie, Vaginismus) und des Mannes (erektile Dysfunktion, vorzeitiger Orgasmus). Alle diese Störungen sind keine Diagnosen, sondern nur Symptome. Die genaue Exploration der Ursachen ist Aufgabe des Arztes und erfordert viel Zeit, sie ist aber auch die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.
Die sexuelle Identität bezeichnet den Selbstwert im eigenen Geschlecht. Immer dann, wenn sich ein Mann oder eine Frau selbst als für Sexualität zu wenig attraktiv fühlt und dadurch dessen/deren Sexualität beeinträchtigt wird, handelt es sich um eine Störung der sexuellen Identität. Deren Symptome reichen vom Rückzug aus der Sexualität bis hin zu unnatürlichen Maßnahmen, die sexuelle Attraktion zu verbessern. Darunter fallen die meisten Schönheitsoperationen, Mammaplastiken, Penisverlängerungen etc.
Die Erfahrung lehrt, dass durch dererlei Eingriffe die Probleme der Patienten nicht oder nur vorübergehend behoben werden können; die richtige Therapie wäre eine Sexualtherapie – eine auf Sexualität zentrierte Psychotherapie.
Eine weitere Störung der sexuellen Entwicklung betrifft die sexuelle Orientierung. Diese beschreibt die sexuelle Vorliebe auf ein gewisses Geschlecht. Männer und Frauen können auf Männer (Androphilie) oder Frauen (Gynäphilie) orientiert sein – wobei sich die beiden Geschlechter in deren sexueller Orientierung bedeutsam unterscheiden: Während 90 Prozent der Frauen und nur zehn Prozent der Männer androphil sind, sind 90 Prozent der Männer und nur zehn Prozent der Frauen gynäphil.
Eine Störung liegt dann vor, wenn die angelegte sexuelle Orientierung – unabhängig davon, ob auf das gleiche oder das andere Geschlecht gerichtet – nicht gelebt werden kann oder will. Meist spielen hier gesellschaftliche Barrieren eine Rolle.
Quelle: Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10. Sexuologie 12 (3/4), S. 120-152. |
Die Geschlechtsidentität wird definiert als die überdauernde Erfahrung der eigenen Individualität als männlich oder weiblich. Geschlechtsidentitätsstörungen (GIS) sind landläufig bekannt als Transsexualität, doch so einfach ist das nicht. Die Behandlung von GIS führt zum Teil zu irreversiben Veränderungen des Körpers in Richtung des biologischen Gegengeschlechtes, weswegen die Diagnosestellung besonderer Sorgfalt bedarf.
Grundsätzlich kann die Diagnose einer transsexuellen GIS erst nach Abschluss der sexuellen Reifung gestellt werden, also frühestens postpubertär. Zu dieser Erkenntnis kam man leider erst nach einer Reihe von folgeschweren Fehldiagnosen und -behandlungen, die sich im Nachhinein als desatrös für die Betroffenen herausgestellt haben. Neben der „echten“ Transsexualität gibt es noch die nicht transsexuelle GIS und den transvestitischen Fetischismus.
Eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung führt zu einer Störung der Sexualität in der durch das jeweilige Geschlecht favorisierten sexuellen Dimension. So „reparieren“ Männer ihre defiziente Persönlichkeit im Bereich der Lustdimension, Frauen im Bereich der reproduktiven Dimension. Die Reproversion (Beier) ist das weibliche Gegenstück zur überwiegend männlichen Perversion. Wenn also – aus welchen Gründen auch immer – das Selbstsystem einer Frau Mängel aufweist, kommt es als Abwehrstrategie zu einer Forcierung reproduktiver Impulse.
Störungen der sexuellen Fortpflanzung (siehe Kasten) umfassen weite Bereiche vom unerfüllten Kinderwunsch bis zur Kindestötung. Die häufigsten Ursachen für eine problematische Verarbeitung von aus der Reproduktion stammender Besonderheiten sind Schwangerschaftsabbrüche, Fehlgeburten, unerfüllter Kinderwunsch und eingebildete oder nicht wahrgenommene Schwangerschaft. 42,6 Prozent der Frauen geben an, in diesen Bereichen eigene traumatische Erfahrungen zu haben.
Besondere Beachtung verdient der Missbrauch eines Kindes zur Selbststabilisation oder als Selbstobjekt. Die gegen das Kind gerichtete Störung der Sexualität besteht darin, dass dem Kind eine Entwicklung aufgezwungen und nicht ein Sich-entwickeln-Lassen zugebilligt wird; die dem Kind zustehende Autonomie wird dadurch untergraben.
Paraphilien („danebenliegende Liebe“) sind ein zutiefst männliches Thema, so wie die Störungen der sexuellen Fortpflanzung ein weibliches sind. Theoretisch kann man davon ausgehen, dass auch Frauen paraphil sein könnten, praktisch gibt es aber bei keiner Paraphilie eine messbare Größe bei Frauen, mit Ausnahme beim Masochismus in einem Verhältnis Männer zu Frauen von 20:1.
Paraphilien können sich auf nicht menschliche Objekte und Körperteile (Fetischismus, Sodomie) richten, auf Leiden oder Demütigung bzw. Schmerz oder Erniedrigung seines Partners oder seiner selbst (Masochismus, Sadismus) oder auf Kinder (Pädophilie) bzw. nicht einwilligende oder nicht ein willigungsfähige Personen. Paraphilien sind in der Öffentlichkeit nicht mehrheits- und in der Beziehung kaum konsensfähig.
Männer mit paraphilen Erregungsmustern erschrecken meist ihre Sexualpartnerinnen und stoßen in der Öffentlichkeit auf Ablehnung. Erst aus einer solchen Traumatisierung heraus (das Erlebnis der Ablehnung) entsteht die sexuelle Störung. Dabei sind die meisten Paraphilien primär als keineswegs deviant einzustufen, sondern eine weit verbreitete Spielart männlicher Lust. Laut Berliner Männerstudie beinhalten die sexuellen Phantasien von fast 60 Prozent aller Männer paraphile Inhalte.
Die Paraphilie ist die Störung der sexuellen Präferenz, sie muss per se keine strafbare Handlung darstellen. Sollte daraus eine strafbare Handlung werden, spricht man in der Folge von Dissexualität.
Trägt ein Mann die Kleider des anderen Geschlechts, stellt er sich dabei vor, sowohl das männliche Subjekt als auch das weibliche Objekt zu sein. Der transvestitische Fetischismus ist häufiges Thema in der Sprechstunde des Sexualmediziners. Ratsuchende sind meist nicht die Patienten selbst, sondern deren Partnerinnen, die manchmal zufällig, manchmal aufgrund bewusst gelegter Indizien die Neigungen ihres Partners erkennen.
Fetischismen richten sich auf nicht menschliche Objekte (Unterwäsche, Stiefel, Schuhe etc.), Gerüche oder Körperteile (Füße). So harmlos sich häufig Fetischismen darstellen, so schwierig scheint es zu sein, sie innerhalb einer Beziehung zu leben. Sexualpartnerinnen fetischistisch geneigter Männer sind meist überfordert mit der Erfüllung der Wünsche und wenden sich häufig von ihren Partnern ab.
Beim sexuellen Masochismus wird der reale (nicht virtuelle) Akt der Demütigung oder Submission, dabei häufig das Geschlagen- oder Gefesseltwerden, als sexuell anregend empfunden. Partnerlose Masochisten neigen dazu, sich selbst Gewalt anzutun, mit Nadeln zu stechen oder sich elektrische Schocks im Genitalbereich zuzufügen. In einer Partnerschaft befindliche Masochisten spielen Knechtschaftsinszenierungen und Bestrafungen oder lassen sich wegen gespielter Aufsässigkeit dazu zwingen, wie ein Hund zu kriechen. Eine extreme Spielart ist die Asphyxiophilie, bei der mit Atemkontrolle (und sich der dabei einstellenden Hyperkapnie) ein besonderes orgiastisches Erleben erreicht werden soll.
Als sexuell erregend empfunden werden reale (nicht virtuelle) Handlungen, die einem anderen Leiden zufügen (Fesseln, Auspeitschen, Knebeln, Zufügen von Brandwunden, Anbringen von Wäscheklammern etc. bis hin zum Tod). Das psychoanalytische Motiv für Sadismus ist eine narzisstische Wunde, die auf mangelnde Zufuhr mütterlicher Liebe zurückgeht. Sie führt zu Wut und Aggression gegenüber der versagenden Mutter. Diese sadistische Komponente wird in der Pubertät sexualisiert und damit auf die schuldlose Sexualpartnerin übertragen.
Der Voyeur nimmt große Anstrengungen auf sich und überwindet große Hindernisse, um Paare in Intimsituationen zu beobachten. Meist befriedigt er sich dabei selbst. Dies ist das Wesentliche an seiner Sexualität. Voyeur zu sein bedeutet nicht, grundsätzlichen Gefallen an der Darstellung von Sexualität zu finden. Die visuelle Erotik ist ein fixer Bestandteil überwiegend männlicher Sexualität.
Dieser ist genitales Präsentieren als sexueller Endzweck. Aus der panischen Reaktion einer überraschten Frau glaubt der Exhibitionist Anerkennung für seine genitale Ausstattung erkennen zu können. Die psychoanalytische Erklärung für derlei Praktiken sind Kastrationsängste. Exhibitionismus ist nicht das Präsentieren körperlicher Reize zum Zwecke der Anbahnung von Sexualität, hier ist das Kriterium des Endzweckes nicht erfüllt.
Frotteure reiben sich oder ihre Genitalien an zufälligen oder zuvor sorgsam ausgewählten Opfern. Sie benützen dafür überfüllte öffentliche Verkehrsmittel oder andere öffentliche Plätze mit Menschenansammlungen.
Jemand, der jemanden anderen ohne dessen Zustimmung berührt, ist ein Toucheur. Toucheurismus findet sich meist unter Alkoholeinfluss.
Darunter versteht man sexuelle Erregungsmuster auf kindliche, d.h. präpubertäre Körper. Zeigt ein Kind die ersten Zeichen geschlechtlicher Entwicklung, endet definitionsgemäß die Pädophilie. Sie ist wohl das heikelste Thema in der Sexualmedizin, und viele Sexualmediziner scheuen sich deshalb, sich dazu zu äußern. Als Grund hierfür mag der Umstand gelten, dass Kinder involviert sind, die in ihrer Schwäche und Ausgeliefertheit zu Recht den besonderen Schutz der Gesellschaft genießen.
Übergriffigkeit an einem Kind zerstört dessen Persönlichkeit und beeinträchtigt dessen sexuelle Entwicklung. Deshalb ist die Pädophilie als sexuelle Praktik verboten und hat strafrechtliche Konsequenzen.
Dies alles darf aber nicht zum Anlass genommen werden, eine objektive Sicht der Dinge unmöglich zu machen: Die richtige Strategie gegenüber pädophilen Männern ist nicht deren Ausgrenzung (was gar nicht möglich ist, denn laut Berliner Männerstudie haben über zehn Prozent der Männer auf kindliche Körper gerichtete Erregungsmuster), sondern deren Behandlung, noch bevor sie delinquent geworden sind.
Die Pädophilie ist eine schuldlos akquirierte sexuelle Präferenz, die sich in Masturbationsphantasien und Tagträumen abspielt. Dies kann weder kriminalisiert noch bestraft werden, da es sich um eine willentlich und therapeutisch nicht änderbare Präferenz handelt.
Die Behandlung zielt auf eine vollständige Verhaltensabstinenz, die umso eher erreicht werden kann, je früher eine Behandlung begonnen wird. Jedenfalls muss eine Therapie vor einer Viktimisierung eines Kindes begonnen werden.
Man muss daher Männer mit entsprechenden Neigungen ermuntern, sich rechtzeitig in Therapie zu begeben.
Männer, deren Erregungsmuster mehrere paraphile Präferenzen beinhalten.
In der Dissexualität wird aus der Störung der sexuellen Präferenz (Paraphilie) eine Störung des sexuellen Verhaltens. Am Beispiel Pädophilie: Solange Erregungsmuster auf kindliche Körper in der Phantasie eine Rolle spielen, ist dies paraphil. Wird ein pädophiler Mann delinquent, wird die Paraphilie zur Dissexualität und zum Kriminaldelikt.
Dr. Georg Pfau
Arzt für Allgemeinmedizin, Sexualmediziner, Linz
© MMA, Clinicum Urologie 4/2013